• Sep
    06.

    REHACARE 2018: Smarte Hilfen für mehr Teilhabe

    Ende 2017 gab es in Deutschland rund 7,8 Mio. schwerbehinderte Menschen. Ein breites Spektrum an digitalen Hilfsmitteln erleichtert ihnen den Alltag. Intuitive Nutzung durch die Anwender sollte schon bei der Entwicklung eines Produktes mitgedacht werden. Beispiele marktreifer Produkte und innovative Trends sind bei der internationalen Fachmesse REHACARE 2018 vom 26. bis 29. September in Düsseldorf zu sehen.

    Knapp jeder zehnte Bundesbürger (9,4 Prozent) ist schwerbehindert. Ende 2017 lebten in Deutschland laut Statistischem Bundesamt (Destatis) rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen. 51 Prozent waren Männer und 49 Prozent Frauen. Die Ursachen liegen überwiegend in Krankheiten und in der alternden Bevölkerung.

    Exoskelette, die Querschnittsgelähmten das Gehen ermöglichen, Gehstöcke mit Ortungsfunktion, Apps, die das Gedächtnis trainieren oder Orthesen steuern und kontrollieren – eine Vielzahl von intelligenten Hilfsmitteln unterstützt Menschen mit Behinderung in ihrem privaten und beruflichen Alltag.

    Die REHACARE Düsseldorf präsentiert neben innovativen, marktreifen Produkten auch zukunftsorientierte technologische Entwicklungen.

    Beweglichkeit verbessern

    Der Bereich Human Motion & Control von Parker Hannifin stellt bei der Fachmesse das neue Therapie-Exoskelett INDEGO (Halle/Stand 4/B48) vor. Das Gerät komplettiert die Palette von INDEGO Exoskeletten und deckt die gesamte Therapiekette von der stationären über die ambulante Behandlung bis zur Heimversorgung ab.

    Das Exoskelett mit einem Gesamtgewicht von unter 15 Kilogramm wurde für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen aufgrund einer Rückenmarksverletzung oder einer anderen neurologischen Diagnose entwickelt. Therapeuten können Patienten dank einer speziellen Software eine spezifische Gangtherapie anbieten, die auf den Prinzipien des motorischen Lernens beruht. Dank einer schnellen und effizienten Handhabung profitieren die Betroffenen von einem intensiven Training, das zu einem besseren Gangbild, erhöhter Gehgeschwindigkeit und Ausdauer führen kann.

    Neue Bewegungsfreiheit und damit größere Unabhängigkeit verschafft das neue Orthesensystem von Ottobock (Halle/Stand 6/A37). Das C-Brace® ist die weltweit einzige Lähmungsorthese, die sowohl die Stand- als auch die Schwungphase des Gehens kontrollieren kann. SSCO steht für Stance and Swing Phase Control Orthosis. Die Sensoren im Gelenk erkennen, in welcher Phase des Gangzyklus sich der Anwender gerade befindet, der Mikroprozessor regelt entsprechend den Hydraulikwiderstand.

    Auf diese Weise können Menschen, deren kniestreckende Muskulatur ganz oder teilweise gelähmt ist – zum Beispiel als Folge einer Kinderlähmung – das Bein unter Last beugen und somit Schrägen bewältigen. Sie sind dadurch auch in der Lage, Treppen hinuntersteigen und auf unebenem Gelände zu gehen. Das neue C-Brace® ist deutlich kleiner und leichter als sein Vorgänger und ermöglicht einen noch dynamischeren und feinfühligeren Bewegungsablauf. Zudem lässt sich das Orthesensystem unauffällig unter der Kleidung tragen. Ein weiterer Vorteil: C-Brace® ist mit einer Smartphone-App einfach zu bedienen. So können Anwender zum Beispiel für das Fahrradfahren einen speziellen Modus auswählen.

    Nicht jeder Nutzer kommt mit den Touchscreens von Smartphones, Tablets oder Laptops zurecht. Schwierigkeiten haben unter anderem Menschen mit Tremor, bei denen unwillkürliche Zitterbewegungen der Hand eine zielgerichtete Bedienung der Oberfläche unmöglich machen. Speziell für diese Zielgruppe wurde das innovative Hilfsmittel AMAneo von CSS Micro Systems (Halle/Stand 5/C10) entwickelt. Der unterstützende Maus-Adapter kann über die USB-Schnittstelle angeschlossen werden. Dank eines intelligenten Algorithmus errechnet er aus den unruhigen Zitterbewegungen die gewünschte Aktion, so dass die Betroffenen marktübliche Geräte benutzen können.

    Augensteuerungen und Ortungssysteme

    „Eine immer größere Bedeutung bei digitalen Hilfsmitteln gewinnt die Augensteuerung“, erklärt Ina Siemer, Marketingleiterin von Humanelektronik GmbH, Worms. „Diese Art der Steuerung kommt unter anderem in der unterstützten Kommunikation, in Computerbrillen oder bei Rollstühlen zum Einsatz.“

    Die Firma Humanelektronik (Halle/Stand 5/C07) nutzt die Technologie bei der Kommunikationshilfe SeeTech®PRO. Der Anwender verständigt sich, indem er oder sie über die Augen Buchstaben, Wörter oder Symbole zu einem Text zusammensetzt, der dann über einen Lautsprecher mit einer Computerstimme ausgegeben wird. Zudem können mit dem System in Kombination mit einer Umfeldsteuerung auch Fenster und Türen geöffnet oder geschlossen werden, oder es wird Licht an- oder abgeschaltet.

    Beim SeeTech®Wheelchair wird die Augensteuerung zur Navigation des Rollstuhls integriert. Das Steuerungsmodul besteht aus einer Kamera sowie Lichtquellen und sendet Infrarotstrahlen aus. Das von den Augen reflektierte Licht wird von der eingebauten Kamera aufgefangen, so dass das System erkennen kann, wohin der Nutzer auf dem Bildschirm schaut. „Die Forschung arbeitet aktuell daran, die Rollstuhlsteuerung komplett zu automatisieren. Mit Hilfe einer das Umfeld erfassenden Kamera sollen so sicheres Fahren und eine größtmögliche Unabhängigkeit möglich werden“, so die Marketingleiterin.

    Der von den Firmen Ossenberg (Halle/Stand 4/A40), cibX und Deutsche Telekom entwickelte Smartstick ist eine leichte, höhenverstellbare Gehhilfe, die mit integrierter Elektronik punktet. Dank des eingebauten GMS-Modem, der GPS-Antenne und einer SIM-Karte ist der Nutzer des Gehstocks überall in Deutschland und in Europa zu lokalisieren. „Das Produkt überzeugt nicht nur mit leichten und strapazierfähigen Materialien wie Carbon, sondern bietet dank der Ortungsfunktion und eines integrierten Notrufsystems Menschen, die Orientierungsprobleme haben, wie etwa bei einer beginnenden demenziellen Erkrankung, die Möglichkeit, Mobilität mit einem hohen Maß an Sicherheit zu verbinden“, so Carsten Diekmann, Geschäftsführer des Unternehmens.

    Zukunftstechnologie Gedankensteuerung

    Gehirn-Computer-Schnittstellen können Hirnsignale messen und damit quasi Gedanken lesen. Der CYBATHLON der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich hat unter anderem das Ziel, die Forschung in diesem Bereich voranzutreiben, damit Menschen mit schweren Behinderungen Hilfsmittel wie einen Computer, Roboterarm oder Rollstuhl steuern können.

    Bei den Teilnehmern der CYBATHLON-Disziplin «Virtuelles Rennen mit Gedankensteuerung» ist die willkürliche Bewegungskontrolle ab mindestens Halshöhe aufgrund beispielsweise einer Rückenmarksverletzung, eines Schlaganfalls oder einer neurologischen Erkrankung stark eingeschränkt oder fehlt sogar gänzlich. Um nun das Potenzial der Gehirn-Computer-Schnittstellen für diese Menschen auszuschöpfen, verwenden die meisten teilnehmenden Teams die Elektroenzephalografie (EEG) zur Erkennung von Hirnsignalen, aber auch andere Methoden wie etwa die Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) sind zugelassen.

    REHACARE-Besucher können diese Technologie bei einem über ein Headset gesteuerten Computerspiel selber ausprobieren und erfahren. Dabei werden Spielfiguren mittels Gedankensteuerung bewegt (Halle/Stand 3/F04).

    Oft fehlen einheitliche Standards

    Bei der Entwicklung von digitalen Hilfsmittel sollte immer die Funktionalität im Blick behalten werden. „Wichtig ist, dass Bediener bei ihren Fähigkeiten abgeholt werden und möglichst nicht neue erlernen müssen“, betont Christoph Jo. Müller, Präsident des Bundesfachverbandes Elektronische Hilfsmittel e.V. (BEH). „Manche Technologien wie die Steuerung per Gesten haben sich nicht durchgesetzt, weil sie von den Nutzern nicht angenommen wurden.“

    Auch wenn das Spektrum an digitalen Hilfsmitteln ständig wächst und Betroffenen mehr Lebensqualität schenkt, im Bereich verbindlicher Standards ist noch viel zu tun. Beispielsweise um Hör-Barrierefreiheit im öffentlichen Raum zu realisieren.  „Sprache und akustische Signale – also beispielsweise Durchsagen in Bahnhöfen sowie der Ton bei öffentlichen Veranstaltungen, in Theatern und Kinos – müssten drahtlos direkt in Hörsysteme übertragen werden können“, meint Renate Welter, Vizepräsidentin Deutscher Schwerhörigenbund e.V., Berlin. „Hier ist ein übergreifender Standard notwendig, der von öffentlich installierten Höranlagen angesprochen und mit dem Tonsignal eines Hilfsmittels bedient werden kann.“

    Barrieren von Anfang an vermeiden

    Bedienerfreundliche Produkte sind nach Meinung von Klaus-Peter Wegge, Leiter des Siemens Accessibility Competence Center (ACC) an der Universität Paderborn, keine Frage der Technik, sondern eher des Denkansatzes. Von Internetseiten, Serviceleistungen im Netz bis zu Hausgeräten sollten seiner Meinung nach alle auf dem Markt angebotenen Produkte von Menschen mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen ohne fremde Hilfe genutzt werden können. „Hier sind vor allem Entscheider gefragt, mögliche Einschränkungen von Anfang an mit zu berücksichtigen“, hebt der Diplom-Ingenieur hervor. „Die Techniker finden dann schon die richtigen Lösungen.“

    Wegge, selbst von Kindheit an blind, hat mit seinem Team ein innovatives Produkt für einen Bankkunden entwickelt. „Ausgangsfrage war, wie ein Blinder seine Geheimzahl in ein Bankterminal mit einem Touchscreen eingeben kann. Aus Sicherheitsgründen war eine Sprachausgabe der Geheimzahl in dem Fall ja keine Option“, erläutert er. „Wir arbeiten hier mit der bekannten Telefontastatur und denken uns auf der fünf eine Münze. Der Sehbehinderte schiebt mit einem Wisch die imaginäre Münze entweder nach oben oder unten, rechts oder links oder diagonal und kommt nach einer Bestätigung mit Doppelklick auf die Mittelposition zurück. Außer der Ziffer 0 erreicht er so mit einem Wisch jede Ziffer.“ Der Praxistest mit 600 Anwendern hat beste Resultate ergeben, so dass das Bezahlsystem schon in großer Zahl in Australien eingesetzt wird.

    Im Kompetenzzentrum arbeiten neben Klaus-Peter Wegge unter anderem ein weiterer blinder sowie ein stark seheingeschränkter Kollege. Gemeinsam bringt das gesamte Team seine Expertise ein, um Geräte und Technologien auf die Nutzbarkeit für eine möglichst breite Anwendergruppe zu testen. Hierbei geht es dann beispielsweise um die Sprachausgabe an Waschmaschinen, die nicht nur Blinde, sondern auch Sehende überzeugen soll, oder um die Barrierefreiheit einer App zur Bedienung von vernetzten Hausgeräten.

    Über die REHACARE INTERNATIONAL Düsseldorf

    Die REHACARE INTERNATIONAL ist Europas führende Fachmesse für Rehabilitation und Pflege. Sie findet alljährlich im Herbst im Düsseldorfer Messegelände statt. 960 Aussteller aus 40 Ländern bieten bei der REHACARE 2018 vom 26. bis 29. September in sechs Messehallen einen repräsentativen Überblick über Hilfen für ein selbstbestimmtes Leben. Informationsveranstaltungen in den Hallen, Themenparks und ein Kongress laden dazu ein, sich über die aktuellen Themen rund um Rehabilitation, Pflege und Älterwerden zu informieren. Die Fachmesse ist mittwochs bis freitags von 10.00 bis 18.00 Uhr geöffnet, am Samstag von 10.00 bis 17.00 Uhr. Weitere Informationen sowie Eintrittskarten für Fachmesse und Kongress sind auf  www.rehacare.de erhältlich.